September / Oktober 2017
13 Tage im Sattel / 9 Ruhetage
1019 km, 95 % asphaltiert
Schnee — ein Wintereinbruch bremst uns aus
Asphalt — Hauptstrassen und ihre Vorteile
Sibirien — an den Ufern des Baikalsees
Sibirien — Taiga, Bären, Wölfe und endlose Wälder! In freudiger Aufregung rollten wir auf den mongolischen Grenzposten zu, wo wir prompt abgewiesen und zu einem anderen Tor umgeleitet wurden. Dort empfing man uns noch eine Spur unfreundlicher und liess uns wissen, dass Fahrräder nicht erwünscht wären — alles auf Mongolisch wohlgemerkt und leider ohne Untertitel. Nach längerer Beratung stellte sich heraus, dass das Überqueren der Grenze auf Fahrrädern verboten ist. So wurden unsere Räder auf die leeren Lastwagen zweier hilfsbereiter mongolischer Trucker verladen und wir wurden ausgestempelt. Die Reise ins 500 m entfernte Russland konnte beginnen. Sie würde insgesamt fünf Stunden dauern. Drüben wurden unsere Räder ausgeladen (von uns) und kontrolliert (von Zöllnern und Hunden). Unsere Dokumente wurden geprüft, wir wurden über Sinn und Zweck unserer Reise befragt, fotografiert und schliesslich eingestempelt. Auch auf der russischen Seite war — wie könnte es auch anders sein — Radfahren verboten! Nochmals hievten wir die Räder auf die Ladeflächen und legten auch die verbleibenden 50 m bis zum Tor regelkonform auf mehr als zwei Rädern zurück.
Wie immer in einem neuen Land waren die ersten Tage spannend. So bescherte uns der erste Besuch in einem Supermarkt im kleinen Städtchen Kjachta, direkt an der Grenze, einen zünftigen (!) Kulturschock und ein Déjà-vu — dasselbe ‚Wow, wie zuhause!‘-Gefühl hatten seinerzeit auch ein ‚Spar‘ in Namibia und ein ‚Carrefour‘ in Vorkriegs-Syrien bei uns ausgelöst. Die erste grössere russische Stadt, das knapp 300 km vom Grenzübergang entfernt gelegene Ulan-Ude mit immerhin 400’000 Einwohnern, erreichten wir in drei Tagen gegen den Wind.
Zum ersten Mal auf dieser Reise legten wir in Sibirien nun längere Distanzen auf einer asphaltierten Hauptstrasse zurück. Wir genossen das Gefühl des Vorwärtskommens und machten von der Möglichkeit, zwischendurch in einem Café ‚Borscht‘ (Suppe mit Roter Beete, ein Klassiker!), ‚Lagman‘ (Suppe mit Nudeln und Gemüse) und ‚Piroschkis‘ (gefüllte Teigtaschen) zu verputzen, regen Gebrauch! Um diese hier schon späte Jahreszeit war der Schiffsverkehr auf dem Baikalsee bereits eingestellt. Ein Abstecher weiter nordwärts blieb uns somit verwehrt. Denn auch eine Umrundung des 600 km langen und an einigen Stellen über 1600 m tiefen ostsibirischen Sees — hier gibt es übrigens Robben! — ist entlang der Küste nicht möglich.
Beim Studium der Karte auf der Suche nach Alternativen drängte sich eine südlich zum Baikalsee verlaufende Bergkette samt Überquerung derselben geradezu auf! So war eine aussichtsreiche Route schnell gefunden. Ein Stück davon war früher Teil der ‚Great Tea Road‘, einer Handelsstrasse, über die vom 17. bis ins 19. Jahrhundert Tee von China nach Russland und weiter westwärts transportiert wurde. Einmal mehr studierten wir Landkarten und stellten mittels ‚GoogleMaps‘ sicher, dass zu überquerende Flüsse auch wirklich mit Brücken versehen waren oder aber Fährverbindungen bestanden.
Womit wir jedoch nicht gerechnet hatten, war ein plötzlicher Wintereinbruch. Dieser bremste uns nach vier ebenso kalten wie erlebnisreichen Tagen — zwar ohne Bären, dafür mit nächtlichem Wolfsgeheul! — komplett aus. Als wir am Morgen des vierten Tages an einer Tankstelle nahe Selenduma nach Wasser und dem Weg fragten, wurde schnell klar, dass dieser für uns hier nicht weitergehen würde. In den Bergen vor uns war über Nacht knietief Schnee gefallen. Dies bestätigte uns auch ein Passant in tarnfarbener, dicker Winterkleidung. Er komme gerade von dort oben. Wir verstanden nur die russischen Wörter ‚Schnee‘ und ‚Bären‘, doch allein der Anblick seiner arktistauglichen Winterstiefel erstickte auch noch den letzten Funken Hoffnung im Keim. Inzwischen hatte die freundliche Tankstellenbetreiberin ihren Vater, den Nachfahren von teebewachenden Kosaken, angerufen. Auch er riet uns dringend davon ab, in die Berge zu fahren, und empfahl uns gleich noch eine mögliche Alternative für den unvermeidlichen Rückweg nach Ulan-Ude. Dabei gerieten wir, nachdem wir zwei strassenversperrende Erdwälle überquert hatten (Because we can!), gleich noch mitten in ein grosses Kohlebergwerk — wo wir vom Wachpersonal auf eine Tasse Tee eingeladen wurden! Diese und weitere Begegnungen mit, trotz Sprachbarrieren, unglaublich hilfsbereiten und freundlichen Menschen entlöhnten uns reichlich für die 300 umsonst gefahrenen Kilometer.
Da wir dann jedoch keine Lust hatten, die Strecke zurück nach Ulan-Ude nochmals zu fahren, nahmen wir schliesslich ab Gussinoojoersk ein ‚Marshrutki‘, einen Minibus. Damit waren wir sozusagen wieder zurück auf Feld eins und vor uns lagen immer noch die 450 offenbar unumgänglichen Kilometer auf der Hauptstrasse nach Irkutsk und gleichzeitig der einzigen Verbindung von Moskau nach Vladivostok.
Wir ergaben uns also ins Schicksal und bissen in den sauren Hauptstrassen-Apfel, der sich als süsser entpuppte, als wir vermutet hatten. Trotz des nasskalten Wetters kamen wir gut voran, gönnten uns aber den Luxus, in Truckstops und einfachen ‚Motels‘ zu übernachten und Energie in stark beheizten Cafés zu tanken. Solche fanden sich mindestens alle 50 km und dort fanden wir auch Zuflucht vor unverhofftem Regen oder Schnee.
Nach fünf Tagen und den erwähnten 450 km erreichten wir Irkutsk bei dichtem Schneegestöber. Auch während unseren vier Tagen in der schönen Stadt wechselten sich Sonnenschein und Schneeflocken teils im Zehnminutentakt ab. Irkutsk liegt malerisch an der Angara, dem einzigen Abfluss des Baikalsees. Mit über 600’000 Einwohnern ist sie eine der grössten Städte Sibiriens. Die westlich anmutende Stadt war uns mit ihren vielen Bäumen auf Anhieb sympathisch. Auch Lenin und Gagarin schienen sich hier heimisch zu fühlen, wenn auch nur in Form von Statuen. Trotz Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt lud Irkutsk mit vielen kleine Parks und verschiedenen Vierteln zum Schlendern ein.
Wir wären länger geblieben, doch das Ablaufdatum unseres russischen Visums erlaubte kein weiteres Trödeln. Den Rückweg in die Mongolei wollten wir per Bahn antreten und so die Strecke entlang des Baikalsees, die wir eben im Sattel erlebt hatten und die oft als schönes Teilstück der transsibirischen Eisenbahn bezeichnet wird, nochmals erleben. Doch dies sahen die untermotivierten Angestellten der Russischen Bahn anders und nach langem Hin und Her rückte ein Fahrradtransport mit der Bahn in weite Ferne. Frustriert nahmen wir schliesslich für die erste Hälfte der Strecke einen Minibus bis Ulan-Ude. Aber es liess uns keine Ruhe. Morgens um 4 Uhr fuhren wir in Ulan-Ude zum Bahnhof. Wir hatten dazugelernt. Diesmal erwähnten wir die Räder bei der Buchung erst, als unsere Tickets zur Grenze schon ausgestellt waren. Und siehe da, es funkionierte. Zwar hiess es auf dem Bahnsteig dann grimmig ‚NJET!‘, doch mit etwas ruhiger Beharrlichkeit sassen wir trotzdem kurz darauf im Zug nach Naushki, dem russischen Grenzbahnhof zur Mongolei. Dort angekommen mussten wir mit Sack und (Rad-)Pack aussteigen und am Schalter Tickets für die Weiterfahrt nach Sükhbaaatar kaufen, dem mongolischen Grenzbahnhof. Nach vier Stunden Wartezeit und einem weiteren gekonnt ignorierten ‚NJET‘ durften wir wieder einsteigen und sassen — Hurra! — wieder im Zug. Dieser lieferte uns, weitere drei Stunden später und keine 20 km weiter südlich, in der Mongolei ab. Doswidanja, schönes Sibirien! Sain bainuu, Mongolia!